Vielen Menschen ist bewusst, dass sie einen Hang zum Perfektionismus haben. Sie leiden unter ihrem viel zu hohen Anspruch an sich selbst, im Job, aber auch im Privatleben. Ständig spüren sie den inneren Druck, etwas noch besser machen zu müssen – und die Befürchtung, nicht gut genug zu sein. Ich erlebe allerdings häufig, wie jemand zwar unter seinem Perfektionismus leidet, aber gleichzeitig glaubt, dass der auch seine guten Seiten hat. Schließlich würde man durch ihn ja zu besseren Leistungen angehalten. Ja, ich bin ein Perfektionist – das hilft mir, einen guten Job zu machen und Anerkennung zu bekommen.
Perfektionismus und Qualitätsbewusstsein – sind das wirklich zwei Seiten derselben Medaille? Braucht Qualität eine perfektionistische Haltung? Und ist Perfektionismus wirklich ein guter Weg zu Erfolg und Anerkennung? Nein! Hier werden zwei Dinge miteinander vermischt, die nicht zusammengehören sollten.
Klar, wenn ich immer mindestens 100 Prozent für jede Aufgabe investiere, werde ich wohl gute Ergebnisse erzielen. Und wenn ich mich in jedem Lebensbereich sehr anstrenge und stets viel höhere Maßstäbe an mich als an andere anlege, werde ich vielleicht dafür gelobt und womöglich respektiert. Die Wahrscheinlichkeit, mit dieser Strategie wirklich erfolgreich zu sein, ist allerdings nicht sehr hoch. Denn man braucht ja mehr Zeit und Aufmerksamkeit für jede Aufgabe. Dies kompensieren Perfektionisten, indem sie sich mehr engagieren und einfach länger arbeiten als andere. Bis zu einer gewissen Grenze haben sie damit Erfolg. Aber ab einem bestimmten Level funktioniert dies nicht mehr – ganz einfach, weil der Tag nur 24 Stunden hat und jeder Mensch irgendwann erschöpft ist.
Spätestens wenn so eine Grenze erreicht ist, gerät der Perfektionist gewaltig unter Druck, manchmal in Panik. Ich muss doch! kollidiert mit der Einsicht Ich kann aber nicht mehr. Dann sucht mancher die Unterstützung eines Coaches. Um die eigenen Ansprüche infrage zu stellen? Nein, meistens um Wege aufgezeigt zu bekommen, noch mehr zu leisten und dem eigenen Anspruch weiterhin gerecht zu werden.
Oft nehmen Perfektionisten übrigens gar nicht wahr, dass es ihr eigener Anspruch ist, der sie antreibt. Viele projizieren ihren Anspruch auf andere Menschen und sind fest davon überzeugt, der Chef, die Kollegen, Freunde oder die Familie würden so hohe Erwartungen an sie haben.
Perfektionismus ist niemals gesund und hilfreich! Er ist niemals ein guter Motivator und ganz sicher keine vernünftige Strategie.
Der Impuls, etwas gut zu machen, überdurchschnittlich zu sein und sich richtig reinzuhängen, sollte immer auf einer bewussten Entscheidung basieren. Erfolgreich sein zu wollen und etwas auf hohem Niveau zu leisten, ist völlig okay – wenn es auf der inneren Freiheit beruht, sich zu entscheiden, wie gut man sein und was genau man erreichen möchte. Als erwachsene Menschen dürfen wir auch bestimmen, uns auszubeuten. Wenn wir das wollen.
Ein Perfektionist will nicht, er muss. Sein Handeln und Denken beruhen nicht auf erwachsenen Überzeugungen und Wünschen. Sondern auf dem inneren Zwang, perfekt zu sein. Und was zwingt ihn? Fast immer stecken Ängste dahinter: abgelehnt, kritisiert oder gar ausgelacht zu werden. Von anderen Menschen und womöglich auch vom eigenen inneren Kritiker, der so erbarmungslos mit uns umgeht. Oft ist Perfektionisten gar nicht bewusst, was sie eigentlich befürchten, wenn sie nicht mindestens 100 Prozent erreichen. Das geht nicht, das darf ich nicht, das hat schlimme Konsequenzen sind Antworten, die ich häufig höre, wenn ich nachfrage. Oder jemand behauptet, eben ein sehr qualitätsbewusster Mensch zu sein.
Wäre er aber lediglich „qualitätsbewusst“, hätte er eine Wahl. Er könnte sich entscheiden, an einer Stelle 95 Prozent erreichen zu wollen und dafür an anderer 60. Er könnte unterscheiden, wo ihm, seinem Arbeitgeber oder dem Kunden ein hoher Einsatz hilft – und wo nicht. Und er wäre in der Lage, sorgsam mit seinen Ressourcen umzugehen, denn er hat die Interessen anderer genauso im Blick wie seine eigenen und die seines Körpers und seiner Psyche.
Die Angst zu versagen und bestraft zu werden ist – auch wenn wir sie alle gut kennen – eine kindliche Angst. Denn sobald wir mit etwas Abstand und differenziert die möglichen Konsequenzen unseres (Nicht-)Tuns bedenken, kommen wir fast immer zu dem Ergebnis, dass uns nichts Schlimmes geschehen kann. Man wird uns nicht auslachen. Und selbst wenn unsere Leistung mal nicht so toll ist und wir Kritik dafür ernten: Ganz sicher wird uns keiner verdammen und verurteilen.
Kindliche Ängste und Sichtweisen erkennen wir daran, dass sie schwarz-weiß sind und keine Zwischentöne kennen. Der Perfektionist strebt ja kein definiertes Ziel an, denkt nicht, er wolle zum Beispiel 98 Prozent erreichen. Sondern er glaubt, er müsse perfekt sein und sich immer noch mehr anstrengen. Stets sitzt ihm seine Befürchtung im Nacken, nicht gut genug zu sein. So schwarz-weiß und undifferenziert denken wir als Erwachsene gewöhnlich nicht, oder?